Die Geschichte der Biomechanik - oder ist die Biomechanik Geschichte?


Denkzettel Nr.1 von Maike Knifka

Dieser Artikel war bereits vor einigen Jahren in meinem alten Blog veröffentlicht. Da er wunderbar zur aktuellen Videoserie über die Hebel im Pferd passt, erlebt er nun sein Comeback:

Der Ansatz der Biomechanik ist, die Bewegungsvorgänge des lebenden Körpers zu erklären und berechenbar zu machen. Der Begriff Biomechanik ist eine Wortkreuzung. Zugrunde liegt hier die einfache Annahme, aus der Gleichung "Mechanik = Die Lehre von der Bewegung von (festen) Körpern" durch den Zusatz „Bio“ = Leben", die Gleichung "Biomechanik = Die Lehre von lebenden Körpern" aufstellen zu können. 

Rein optisch betrachtet ist es natürlich verlockend, Gliedmaßen, Hälse, Becken, etc. als Hebel anzusehen, oder Pferderücken als Brücken. So ging es im 17. Jahrhundert vermutlich auch Borelli [1]. Zu mal es in dieser Zeit wohl modern war, technischen Fortschritt zu symbolisieren und sich beispielsweise Körper als Maschinen vorzustellen. Das ist lange her. Sieht man sich die Historie der Mechanik an und die definierten Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, um die Gesetzmäßigkeiten der Mechanik sinnvoll anwenden zu können, wird klar, dass hier in Bezug auf den lebenden Körper falsche Annahmen getroffen wurden: In der Biomechanik geht man aber auch heute noch davon aus, dass Muskeln über Knochen, die als Hebel fungieren, Drehmomente in Gelenken erzeugen und darüber Kraft bzw. Bewegung übertragen. 

Ein Hebel ist definiert als starrer Körper, der um eine Achse drehbar ist. Ein Drehmoment in der Maßeinheit Nm (Kraft x Hebelarm) ist die Drehwirkung einer Kraft auf einen Körper. Nötig ist hierfür ein Angelpunkt, der in der Biomechanik durch den Gelenkmittelpunkt dargestellt wird. 

Ein Hebel ist laut Archimedes bezüglich seiner Effektivität der Wirkung abhängig davon, wie sehr dieser Angelpunkt als Festpunkt fungiert. Jeder, der schon einmal eine Brechstange benutzt hat, weiß das. Ohne Festpunkt keine Wirkung. Ein Hebel wird daher auch als einfache Maschine bezeichnet. 

In der Anwendung der Mechanik auf den lebenden Körper fällt nun zum einen auf, dass nirgends ein als Festpunkt in Frage kommender Angelpunkt zu finden ist und zum anderen auch kein Hebel, oder Hebelwerk: 

Im Sinne dieses mechanischen Ansatzes, dass Knochen als Hebel fungieren, wird angenommen, dass die Kräfte über Druck von einem Hebel zum nächsten weitergeleitet werden. Aber in der vereinfachten Übertragung des archimedischen Hebelgesetzes würde dies ja bedeuten, dass die Kraftübertragung umso effektiver ist, je mehr die Angelpunkte (Gelenke) als Festpunkte agieren. 

Gelenkflächen sind nun aber so ziemlich das gleitfähigste Material, dass man sich vorstellen kann. Mit einem Reibungskoeffizienten von 0,02 - 0,002 [2] ist ein Widerstand also nicht wirklich spürbar.

Durch diesen Fakt entsteht nun zunächst das Bild eines vermeintlichen Hebelwerkes, in dem die Hebel derartig gleitfähig miteinander verbunden sind, dass eine effektive Druckübertragung oder Hebelwirkung nicht stattfinden kann. Zumal das Vorhandensein des Gelenkspalts ja eigentlich schon erklärt, dass hier gar kein direkter „Hebelkontakt“ besteht, sondern ein Umlenken (Ge-lenk).

Ein Hebel ohne Angriffspunkt kann nicht als ein solcher bezeichnet werden.

Die Einzelbestandteile des Skeletts, die in der Modellvorstellung der Biomechanik als Hebel angesehen werden, sind in Wirklichkeit gleitfähigst miteinander verbunden und „schwimmen“ als sogenannte floating compression-Elemente in einem kontraktionsfähigen Weichgewebekörper. 

Die Bewegungsorganisation folgt den Prinzipien der Biotensegrität. Der kleine Film demonstriert auf einfachste Weise diese Art der Bewegungsorganisation und den „Umgang“ mit einwirkenden Kräften. Zu sehen sind keine Hebelwirkungen und keine sich berührenden Druckelemente sondern die Verteilung von Kräften auf das Gesamtsystem durch Spannungsaufnahme, Speicherung und Weiterleitung.



Maike Knifka, Bauingenieurin, Pferdephysiotherapeutin und Pferdeosteopathin, eigenes Lehrinstitut für Osteopathie und physiotherapeutisches Training am Pferd

[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Giovanni_Alfonso_Borelli
[2] Ein Wert von 1 bedeutet volle Haftung bzw. Gleitfähigkeit = 0.

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