Harter Stoff - eine Videorezension

Rezension des Videos "Tragkraft vs. Schubkraft"

In meinem neu gegründeten Kitchen Lab ergründe ich die physikalischen Gesetze in Bezug auf Anatomie und Bewegung im Allgemeinen und bei Pferden im Besonderen.  Hier gehe ich den Dingen auf den Grund, überprüfe die Stimmigkeit von Aussagen auf der Grundlage physikalischer Gesetze. Dort habe ich bereits zwei Videos über Aussagen und Falschaussagen zur Biotensegrität produziert, mit nachbaufähigem Versuchsaufbau.

Daher passt dieser Artikel aus dem Blog "Die Pferde sind nicht das Problem" vom 3.3.2020 gut zur Thematik meiner Arbeit im Kitchen Lab:

Mit einer gewissen Sorge betrachte ich die Entwicklung im Netz, dass es immer besser gemachte Videos und Webinare rund um's Pferd gibt, die gut anzusehen sind und komplexe Themen sehr verständlich aufzubereiten scheinen. Diese Qualitäten täuschen darüber hinweg, dass die Erklärungen Bewegungsbilder bedienen, die dem Bewegungsapparat des Pferdes (und auch vielen anderen Themen) nicht gerecht werden und bei ausreichender Verinnerlichung seitens der Reiter, Therapeuten und Trainer dem Pferd schaden.
    Mit dieser Sorge bin ich nicht allein, weshalb ich an dieser Stelle ein besonders extremes Video rezensiere, das zudem die in meinen Augen ausartende Unsitte der Entstellung von Zitaten pflegt. Es ist auszuschließen, dass es sich bei mir um Abneigung gegen den Herausgeber handelt, da dieser mir meines Wissens nicht persönlich bekannt ist. Grundsätzlich gehe ich vom Guten im Menschen aus und davon, dass alle das Beste für die Pferde wollen, und vielleicht hilft diese Rezension ja bei der Definition dieses "Besten":  Es geht nicht um Personen, es geht um Inhalte!

Das Video:


"Die Tragkraft und die Schubkraft" von "Pferde gesund bewegen". Die Videos dieser Reihe haben eine recht ordentliche Reichweite, weshalb ein Faktencheck sinnvoll ist. Bei dem Thema handelt es sich um einen ewigen Zankapfel in der Reiterei, es lohnt sich daher auch in dieser Hinsicht, sich damit zu befassen. https://www.youtube.com/watch?v=nF6XxzVesoo

Auf der Titelseite des Videos (0.07) wird der Themenkomplex „Die Schubkraft und die Tragkraft“ genannt, während es im nächsten Bild dann heißt „Schubkraft vs. Tragkraft“. In den ersten Sekunden (0.11) bietet sich damit schon Material für einen ganzen Artikel, denn es wird impliziert, dass es nur Schubkraft ODER Tragkraft geben kann und dass die Hinterhand für beides zuständig ist. Durch die Gegenüberstellung von Schubkraft und Tragkraft wird die Vorstellung einer Synthese der Kraftrichtungen im Ansatz verhindert. Mensch und Pferd werden gezwungen, sich für das Eine oder das Andere zu entscheiden.

Gustav Steinbrecht

Im weiteren Verlauf  wird Gustav Steinbrecht zitiert mit "Reite dein Pferd vorwärts und richte es gerade" und die Beobachtung geteilt, dass alle Welt daraufhin nur schneller sowie in die Länge und Tiefe reite und das ja nicht der Zweck der Übung sein könne. Letzteres sehe ich auch so.  Anschließend wird das Zitat vervollständigt und die Frage gestellt, was „Vorwärts“ denn nun im steinbrechtschen Sinne heißen möge (1.32). Hierauf gibt das eingestellte Zitat sehr präzise Auskunft, wird aber ein paar Sätze weiter schlicht uminterpretiert: Steinbrecht strafe mit seiner Aussage alle schneller reitenden Reiter ab. – Dies stimmt mit Sicherheit nicht, denn Steinbrecht lebte zu einer Zeit, als man mit guten Pferden, die man nach Bedarf schnell oder langsam reiten konnte, noch Kriege gewann. Deshalb sollte man „nicht eilig und gestreckt“ in keinster Weise als „nicht schnell“ verstehen. Zudem erreicht man in eiligen und gestreckten Gängen keine Geschwindigkeit.

Es ist also durchaus korrekt, dass Steinbrecht eilige, gestreckte Bewegungen ablehnt, nicht jedoch Geschwindigkeit – denn von dieser ist im Zitat nicht die Rede.

Als nächstes wird „Schub“ als „nach hinten heraustreten“ interpretiert, was mit absoluter Sicherheit nicht in Steinbrechts Sinn ist, und es wird behauptet, Steinbrecht habe „sich selten einfach und auf den Punkt ausgedrückt“. Meines Erachtens hat er das meistens sehr wohl, aber das Geschriebene passt bei vielen Reitern nicht ins vorhandene Wissensnetz; es deckt sich weder mit ihrer Vorstellung von Bewegung noch mit ihren reiterlichen Erfahrungen.
    Deshalb passiert nun etwas, was ich erschreckend finde. Das Ende des Zitates, „...das Bestreben, die Last vorwärts zu bewegen“ (im Bild) wird abgeändert in „...die Last vorwärts zu tragen“ im gesprochenen Text. Und weiter: „An dieser Stelle redet er also von der TRAGKRAFT.“
    NEIN. TUT. ER. NICHT! Er schreibt von Schub, und er meint Schub, soviel muss man dem Manne zugestehen, wenn man ihn für so wichtig hält, dass man ihn zitieren muss!

Die Hankenbeugung als „biomechanischer Aspekt“

Die Spannsägenkonstruktion der Hinterhand ist in dem kleinen Video links im Bild (3.04) hervorragend dargestellt. Bei genauer Betrachtung der Bewegungsrichtung fällt auf, dass die Entladungsrichtung der in der Beugung unter Last aufgeladenen Struktur vom Fesselkopf durch die Mitte des Unterschenkels zum Oberschenkelhalskopf/Hüftgelenk geht (grüne Linie von mir eingezeichnet).  












So, wie die Bewegung dargestellt ist, mit dem Huf räumlich vor der Position des Hüftgelenkes, geht die Entladung jedoch nach hinten oben, was in deutlichem Widerspruch zur von Steinbrecht geforderten Schubkraft und der dafür erforderlichen Schubrichtung (vorwärts...) steht.
    Wie sähe die erforderliche Druckrichtung aus, wenn der Huf während der Aufladung flach auf dem Boden stehen sollte? Bei genauer Betrachtung kann man so in diesem kleinen Video genau erkennen, warum mit offenem LSG und unter den Bauch geschobenen Hinterbeinen keine zielführende Auf- und Entladung der Strukturen stattfinden kann. Danke dafür! Hier widerlegt das Video die späteren Schlussfolgerungen des Sprechers.
    Dass durch die Konstruktionsweise Knie- und Sprunggelenk (korrigiert, danke!) gekoppelt sind, ist zweifelsfrei richtig. Allerdings benötigen die Strukturen gleichwertige erste und zweite Hälften der Stützbeinphase, um entsprechend arbeiten zu können. Jede Verschiebung des neutralen Fußungsdreiecks hat daher ein Kräfteungleichgewicht beziehungsweise eine Reduzierung der Möglichkeiten zur Folge.

Denkfehler

Mit einer Fehlinterpretation geht es dann leider weiter: „Je tiefer die Beugung, um so stärker die Belastung der Muskeln der Hinterhand“. Das ist falsch. In der Beugung belastet und bei sinnvollem Versuchsaufbau trainiert und verstärkt werden primär die faszialen Strukturen.
    Der Vergleich mit den langsam ausgeführten tiefen Kniebeugen ist unsinnig, weil sich, wie im Video erkennbar, die Strukturen an der Schwerkraft bzw. an dem ausgeübten Druck des Vorführenden aufladen und ohne zusätzlichen Energieaufwand wieder entladen. Wäre „Muskelkraft“ für die Streckung vonnöten, müsste für das Video der Huf am Boden fixiert sein und der Vorführende oben ziehen. Wenn totes Gewebe reagiert wie im Video gezeigt, kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass die Muskeln nicht beteiligt sind. Auch hier widerlegt das Versuchsvideo die Aussagen des Vorführenden. Die Forderung, nur kurze Reprisen der Hankenbeugung zu verlangen, zeugt von einer künstlichen, den natürlichen Gegebenheiten zuwiderlaufenden Vorstellung von diesem Bewegungsablauf.
    Die sinnvolle, dem natürlichen und tensegralen Potenzial des Pferdes entsprechende Auf- und Entladung der Hanken findet ganz unspektakulär jederzeit, mit jedem Tritt statt. Erst in den Übergängen zwischen den Tempi und Gangarten entsteht ein Trainingsreiz durch die Notwendigkeit für das Pferd, Stärke und Richtung der Entladung der Strukturen, die m. E. den Schub im steinbrechtschen Sinne darstellen, zu kontrollieren.

Eine gefährliche Vereinfachung:


Der Vergleich Schubkraftdominanz vs. Tragkraftdominanz (4.22) funktioniert nur bei isolierter Betrachtung der Hinterhand. Steinbrecht fordert, wie im Video zuvor gezeigt, jederzeit Schub. Immer. Und ich bin mir sicher, dass er das auch so gemeint hat. Schub bezieht sich in diesem Fall weder auf die Geschwindigkeit, denn er soll ja immer erkennbar sein, noch auf Dreck schaufeln, sondern auf die Kraftrichtung. Und die muss, unabhängig von der Größe der wirkenden Kraft, nach vorwärts gerichtet sein. Im kleinen Video von der Spannsägenkonstruktion ist sie nach rückwärts gerichtet.
    Die spannende Frage wäre jetzt, welche Ausrichtung die Hintergliedmaße brauchen, um den Schub, und sei es nur minimal, nach vorwärts zu richten? Und die andere Frage ist, wenn die Hinterhand IMMER Schub liefern soll, ...

... wo ist dann die Tragkraft?

Die Tragkraft kommt im Video leider nicht vor. Denn: "Tragen" würde für die Hinterhandstrukturen bedeuten, dem Körpergewicht in der ersten Hälfte der Stützbeinphase eine Kraft entgegenzusetzen, was das Hinterbein nicht tut (nicht tun sollte). Es lädt sich am Gewicht auf, gibt ihm nach, soweit es physiologisch sinnvoll ist und entlädt sich in der zweiten Hälfte der Stützbeinphase nach vorwärts in die Körpermasse (um „die Last vorwärts zu bewegen“).
    Jede Phasenverschiebung in Richtung einer räumlich und zeitlich auf Kosten der zweiten Hälfte der Stützbeinphase verlängerten ersten Hälfte der Stützbeinphase führt unweigerlich zu Taktunreinheiten und verschobener Fußung. (4.29) Das Abkippen des Beckens und das Öffnen (=Beugen) des Lumbosakralgelenkes wiederum führt unweigerlich zu der obengenannten Phasenverschiebung. 

Und nun der Knaller:


Dieses Bild, beziehungsweise diese Bewegungsvorstellung begegnet mir immer wieder, aber es wird durch die Wiederholung nicht besser. Hierzu gibt es auch mehrere weitere Posts, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit der Unsinnigkeit dieser Idee befassen. Daher bleibt mir an dieser Stelle nur, ebenfalls zu wiederholen:


Aus dieser Haltung/Bewegung heraus 
kann der Widerrist nicht angehoben werden.
Ich verweise auf den Selbstversuch, den Einkaufswagen im Supermarkt vor sich herzutragen.

Die Vorhand kann so nicht entlastet werden, denn wenn von hinten kein Schub mehr kommt (siehe Entladungsrichtung der Hinterhand), muss die Vorhand ziehen, was bei einem Reitpferd eine fatale Fehlbelastung erzeugt.
    Die Vorhand ist zum Tragen gemacht, sie ist der Trainingspartner der Hinterhand. Wie die Kraftrichtung der Hinterhand nach vorwärts wirkt, so wirkt die Kraftrichtung der Vorhand nach oben. Und dies ist die herzustellende Balance: Das Gleichgewicht der Kraftrichtungen gegen das Reitergewicht, das zu der gewünschten Geschwindigkeit und Richtung führt.
    Wenn in diesem Gleichgewicht jederzeit alles möglich ist, haben wir eine vollendete Versammlung. Und die kann man, um zu Steinbrecht zurückzukehren, nicht im Stand, auf der Stelle oder im Rückwärts erlangen. Und auch nicht in Webinaren oder durch Video schauen.

Die Schubkraftdominanz


Warum wird die Schubkraft mit einer Bewegungsausrichtung nach vorwärts-abwärts gleichgesetzt? Warum nicht mit einem Vorwärts-aufwärts? (Hier sei noch die Bemerkung angebracht, dass bei der Darstellung der Vorderbeine im Video die grafischen Möglichkeiten unzureichend genutzt wurden. Diese Vordebeine können so nicht tragen. Ein Pferd, das mit gebeugtem Vorderfußwurzelgelenk auffußt, hat ernsthafte Probleme.)
    In gesunder Bewegung mit integrierter Schubkraft sind bei allen Beinen die beiden Hälften der Stützbeinphase in jedem Tempo gleich lang, das nennt sich "räumliches und zeitliches Gleichmaß der Bewegung" und ist für mich eines der wichtigsten Beurteilungskriterien, die in der Reiterei jemals formuliert wurden. JEDE Verschiebung verursacht auf Dauer Pathologien im Bewegungsapparat und im Respirationstrakt. Mehr dazu im Blogpost über Faszienzugbahnen, Atmung und Bewegung.

Das "tragende" Hinterbein


Es gibt kein tragendes Hinterbein (5.25), weil das Hinterbein, wie oben erwähnt, sich in gesunder Bewegung bis zur Mitte der Stützbeinphase hin vom Gewicht beugen und damit aufladen lässt und sich erst aus der „schiebenden Position“ heraus entlädt.... Eine weitere unzulässige Veralgemeinerung ist, dass im Schub die Bauchmuskulatur nicht aktiviert würde. Bei sinnvoll integrierter Schubkraft ist in allen Tempi eine gesunde Vorspannung des gesamten myofaszialen Systems vorhanden, die dem Pferd eine aktive Haltearbeit der Bauchmuskeln erspart.
    Bei steil gestelltem Becken mit gebeugtem/offenen LSG, wie oben bei der "Tragkraftdominanz" dargestellt, verkürzt sich der Weg vom Schambein zum Brustbein, und die Muskeln versuchen, das nun "zu lange“ Gewebe aktiv zu verkürzen. Deshalb wird bei der im Video erwähnten „aktivierten Bauchmuskulatur“ auch immer die „Dampfrinne“ sichtbar, die man als Anzeichen von Pathologien der Atemwege kennt.
    Am Ende lässt das Video mich etwas verzweifeln, denn es gibt kein „Vorwärts vs. Schub“! Vor allem gibt es kein Vorwärts ohne Schub. Als einzige Ausnahme gilt das pathogene Bewegungsmuster "Vorwärts dank ziehender Vorhand mit bremsender Hinterhand", und genau dorthin führt das Video die nach dem „richtigen“ Weg suchenden Reiter. Im Ganzen zeugt das zum Schluss gezeichnete Bild (böse Schubkraft) von einem umfassenden Unverständnis bezüglich Steinbrecht, Schub, Tragkraft und Versammlung.

Fazit

Die professionelle Aufmachung des Videos steht m.E. in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zum vermittelten Inhalt. Wesentlich einfacher und gleichzeitig physikalisch und funktional korrekt lässt sich das Thema mit einer Strichzeichnung darstellen: Das obere Bild zeigt die untergeschobene Hinterhand und die ziehende Vorhand, die gemeinsam eine Art Hängematte aufspannen. Die Kraftrichtungen können so nicht sinnvoll zusammenwirken. Die untere Zeichnung hingegen liefert ein gutes Bild vom Zusammenwirken der Kräfte.
    
Die Bildzitate sind dem oben genannten öffentlichen Video entnommen, um die jeweiligen Argumentationen zu belegen und zu veranschaulichen. 


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